- Weltkrieg, Zweiter: Leben im Krieg
- Weltkrieg, Zweiter: Leben im KriegIm Bewusstsein der meisten Zeitgenossen knüpfte die europäische Konfliktgeschichte am 1. September 1939 dort an, wo sie am 11. November 1918 im Wald von Compiègne unterbrochen worden war. Weithin in Europa empfanden die Menschen den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges als Wiederaufnahme der militärischen Kampfhandlungen nach zwei Jahrzehnten mehr oder minder offenen Ringens um die Ergebnisse des Ersten Weltkrieges. Der Versailler Friedensvertrag vom Juni 1919 hatte das französische Verlangen nach dauerhaften Sicherungen gegen gewaltsame Revisionsversuche des potenziell übermächtigen Nachbarn im Osten nicht annähernd befriedigt. Dort verbreiteten die »nationale« Rechte und die alten Militäreliten mit der Dolchstoßlegende die Behauptung, das »im Felde unbesiegte« Heer sei erst durch den revolutionären Zusammenbruch der deutschen »Heimatfront« Anfang November 1918 zur Aufgabe gezwungen worden. Tatsächlich aber war der Krieg militärisch schon Wochen, ja Monate zuvor verloren gegangen. Die Revolution der kriegsmüden Soldaten und Arbeiter war nicht die Ursache der militärischen Niederlage Deutschlands, sondern deren unmittelbare Folge. Gleichwohl blieben der Erste Weltkrieg und sein Ende der Fluchtpunkt aller Planungen für einen neuen Waffengang — in Berlin wie in London oder anderenorts in Europa. Im Mittelpunkt standen dabei zwei Probleme: die Mobilisierung der eigenen Hilfsquellen im Dienste der Kriegswirtschaft und die Stabilität einer Krieg führenden Gesellschaft. Angesichts der Entwicklung der Waffentechnik, die inzwischen das Kriegsgeschehen weit in das Hinterland des Gegners zu tragen imstande war, entwickelte sich der Zweite Weltkrieg zum Fernduell der — allseits ausdrücklich so genannten — »Heimatfronten«.Der LuftkriegAus seiner traumatischen Erfahrung des Zusammenbruchs von 1918 hatte Hitler vor allem eine Konsequenz gezogen: Unter keinen Umständen dürfe die unkontrollierte Dynamik der Massenstimmung im Innern nochmals die äußere Machtentfaltung des Reiches behindern. Dieser Leitlinie hatten sich nach dem Willen Hitlers und seiner Gefolgsleute alle strategischen Überlegungen unterzuordnen. Der NSDAP und ihren Gliederungen fiel die Aufgabe zu, das politische Wohlverhalten der Bevölkerung zu gewährleisten. Der übernommene Staatsapparat sollte seinen Teil zur Kontrolle und Unterdrückung beitragen und sich um den effizienten Kriegseinsatz der menschlichen und materiellen Ressourcen kümmern. Diese Aufträge machten sich die alten Eliten in Militär, Verwaltung und Wirtschaft nahezu vorbehaltlos zu Eigen. Allen Rivalitäten zum Trotz sorgten Staatspartei und Staatsapparat dafür, dass die Bevölkerung bis zum bitteren Ende keine Anstalten machte, gegen das nationalsozialistische Regierungssystem zu revoltieren. Gelingen konnte Hitler das freilich nur, weil die große Mehrheit der Deutschen seine Politik mehr oder minder enthusiastisch mittrug. Die tatsächliche Lage an den äußeren Fronten und im Innern des »Altreiches« ließ sich im Verlauf des Krieges immer weniger beschönigen. Umso mehr konzentrierten sich Hitler und seine Helfer darauf, durch symbolische Zugeständnisse, durch Mythenbildung und durch exzessive Pflege von Feindbildern enttäuschungsfeste Massenloyalitäten gegenüber ihrem Regime zu befestigen. So wurden die deutschen Arbeiter, Bauern und Soldaten zu Kultfiguren einer arischen Herrenrasse stilisiert, als deren vernichtungswürdige Todfeinde vor allem Juden und Bolschewisten dienten. Nach dem Fall von Stalingrad Anfang 1943 ergänzten Durchhalteparolen und ein Opferkult ohnegleichen die üblichen Beschwörungen des Hitlermythos.Nach dem verheerenden deutschen Luftangriff auf Rotterdam im Mai 1940 flog die noch kleine britische Bomberflotte regelmäßig Angriffe auf militärische Ziele innerhalb des Deutschen Reiches. Als jedoch deutsche Bomben auf London fielen, wurden auch die städtischen Wohnquartiere Deutschlands in das militärische Kriegsgeschehen einbezogen: erster Bombenangriff auf Berlin am 25. August 1940. Dies war der Auftakt jener Angriffswellen, unter denen die Reichshauptstadt und fast alle deutschen Städte seitdem immer massiver zu leiden hatten, weil die alliierten Luftkriegsstrategen hofften, unter dem Eindruck des Bombenhagels werde die Bevölkerung von Hitler abfallen. Bis in den Mai 1945 hinein prägten britisch-amerikanische Flächenbombardements den Kriegsalltag in Deutschland. Am Ende standen über 600000 Tote und fast 900000 Verletzte zu Buche. Über die Hälfte des städtischen Wohnraums war bis zum Frühjahr 1945 völlig oder weitgehend zerstört worden. Fast 14 Millionen Deutsche hatten kein eigenes Dach mehr über dem Kopf. Doch selbst im Angesicht der totalen Niederlage blieb die Loyalität der deutschen Bevölkerung im Wesentlichen ungebrochen.Arbeit im KriegDie Volksgemeinschaftspropaganda in Deutschland, das Verschwinden der millionenfachen Erwerbslosigkeit, die bescheidene Hebung des materiellen Lebensstandards und einige sozialpolitische Zugeständnisse (»Kraft durch Freude«) hatten die meisten Arbeiter wenn schon nicht für Hitlers Diktatur eingenommen, so doch immerhin vorläufig ruhig gestellt. Ein Übriges taten die außenpolitischen Erfolge der Jahre 1933 bis 1938. Freilich vermochte auch der Blitzsieg über Polen nicht darüber hinwegzutäuschen, dass die viel beschworene Volks- und Betriebsgemeinschaft ein zerbrechliches Kunstgebilde blieb. Es herrschte eine »widerwillige Loyalität«.Anfang Dezember 1939 wurden per Kriegswirtschaftsverordnung sämtliche Überstunden- und Feiertagszuschläge gestrichen, die gesetzlichen Beschränkungen der Arbeitszeit wie die geltenden Urlaubsregelungen außer Kraft gesetzt und der Lohnstopp bekräftigt. Ferner wurde ein hoher Kriegszuschlag auf die Lohn- und Einkommenssteuer sowie auf die Umsatzsteuer für Güter des außeralltäglichen Bedarfs erhoben. Mit diesen und anderen Zwangsmaßnahmen sollten die grassierende Arbeitskräftemisere gelindert und zugleich weiteren Preissteigerungen vorgebeugt werden. Die Reaktionen in den Betrieben führten der politischen Führung aber vor Augen, dass die Arbeitnehmerschaft ihre Kriegspolitik weithin nicht um den Preis solcher Einschnitte mitzutragen bereit war. Allerorten bekamen nationalsozialistische »Amtswalter«, besonders die Funktionäre der Deutschen Arbeitsfront (DAF), deren kaum verhohlenen Unmut zu spüren. Gleichzeitig trafen aus der Rüstungsindustrie Hiobsbotschaften über passiven Widerstand der Belegschaften und spürbare Produktionsrückgänge ein. Binnen weniger Wochen wurden daraufhin die meisten Bestimmungen der Kriegswirtschaftsverordnung kassiert oder abgeschwächt. Es gelang dem Regime, die Geldentwertung durch rigorose Lohn- und Preiskontrollen in Grenzen zu halten. Die allgegenwärtige Erinnerung an die Misere der Jahre 1916 bis 1918/19 sorgte dafür, dass sich die Unzufriedenheit der deutschen Bevölkerung bis 1945 durchweg in beherrschbaren Grenzen hielt. Die indirekte Umlenkung des knappen Arbeitskräfteangebots in kriegswichtige Branchen und Betriebe mittels höherer Löhne, wie sie in den angelsächsischen Staaten mit Erfolg praktiziert wurde, widersprach sowohl der zwangswirtschaftlichen Doktrin des totalitären Regimes als auch den kriegswirtschaftlichen Traditionen in Deutschland. Die Einberufungen für den Russlandfeldzug machten eine Lösung des Arbeitskräfteproblems unabweisbar.Das Millionenheer der FremdarbeiterUnter der Ägide des von Hitler zum Generalbevollmächtigten für den Arbeitskräfteeinsatz berufenen Fritz Sauckel wurden Arbeitskräfte aus dem Generalgouvernement Polen und aus den okkupierten Teilen der Sowjetunion zwangsrekrutiert. Gut die Hälfte von ihnen waren junge Mädchen. Die Zahl der rekrutierten Fremd- und Zwangsarbeiter stieg von 3,2 Prozent aller Beschäftigten im Jahre 1940 auf 26,4 Prozent im Sommer 1944. Besonders Nahrungsmittelversorgung und Rüstungsproduktion waren zu entscheidenden Anteilen vom Wohlverhalten eines Millionenheeres von Fronarbeitern abhängig. Die umfassende Überwachung dieses Unsicherheitsfaktors ließ den Unterdrückungsapparat des Staates weiter auswuchern.Die »Fremdarbeiter« wurden einem drakonischen Regime abgestufter Diskriminierungen und Unterdrückungsmaßnahmen unterworfen. Am unteren Ende der streng von der deutschen Bevölkerung isolierten Fremdarbeiterschaft standen die rassisch diskriminierten »Ostarbeiter« aus Russland. Kaum besser war die Lage ihrer polnischen und — nach dem »Abfall« Roms Mitte 1943 — ihrer italienischen Kollegen. Noch schlechter erging es jenen Millionen Kriegsgefangenen, die sich für den deutschen »Endsieg« massenhaft zu Tode schuften mussten. Zumindest im Falle der russischen Gefangenen ging Zwangsarbeit hier oft in planmäßige »Vernichtung durch Arbeit« über. Erst recht galt das für jene Insassen der Konzentrationslager, mit denen Heinrich Himmlers SS die deutsche Industrie 1944/45 in immer neuen Kontingenten versorgte. In einer großen Zahl lokaler »Außenlager« wurden sie unter furchtbaren Umständen gehalten, bis sie ihre Arbeitskraft restlos verbraucht hatten und den Hunger- oder Kältetorturen erlagen, sofern sie nicht zuvor vom Lagerpersonal ermordet oder in die Vernichtungslager abtransportiert worden waren. Über den Umgang der in den Betrieben verbliebenen deutschen Arbeiter mit den ihnen zwangsweise zur Seite gestellten Ausländern und Gefangenen liegen widersprüchliche Zeugnisse vor. Offenkundig hat es manche Schikanen und Übergriffe gegeben, doch an der Tagesordnung waren sie nicht. Manche deutsche Arbeitskräfte fühlten sich in ihrer Funktion als Vorarbeiter und Aufseher tatsächlich jener »Herrenrasse« zugehörig, deren Überlegenheit in der Propaganda unablässig beschworen wurde.Die »uk« (unabkömmlich) gestellten Facharbeiter waren ängstlich bestrebt, nicht durch kritische Bemerkungen oder verdächtige Handlungsweisen ihre Stellung zu gefährden oder ins Blickfeld der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) zu geraten. Schließlich grassierte allerorten das Denunziationswesen; »Bummelanten« drohte die Einweisung in eines jener Lager, die die Gestapo Anfang der Vierzigerjahre zur »Wiedergewöhnung an Arbeit« eingerichtet hatte. Wer sich gar dem Verdacht »defätistischer« oder »heimtückischer« Reden aussetzte oder eines »Rundfunkverbrechens«, dem Abhören ausländischer Kriegsnachrichten, beschuldigt wurde, der musste befürchten, von nationalsozialistischen Sondergerichten ins Zuchthaus oder aufs Schafott geschickt zu werden.Krieg — Motor der SozialpolitikAuf den Britischen Inseln gab es keine Möglichkeit, in großem Stil zusätzliche Arbeitskräfte von außen heranzuführen. Die personellen Anforderungen der Armee und der Rüstungsindustrie mussten aus dem vorhandenen Menschenpotenzial befriedigt werden. In scharfem Kontrast zu Deutschland wurden diese Herausforderungen weitgehend ohne Zwangsmaßnahmen bewältigt. Die Kriegskoalition der Konservativen mit der Labour Party setzte alles daran, die Arbeiterschaft und ihre Gewerkschaften für eine freiwillige Mitarbeit zu gewinnen. Vonseiten der Regierung wurden Lohnbewegungen der Gewerkschaften selbst dann nicht behindert, wenn es dabei gelegentlich zu Streikaktionen kam. Stattdessen versuchte sie durch strenge Preiskontrollen, teilweise auch durch Subventionen, ausgewählte Grundnahrungsmittel und Bekleidung zu verbilligen, um die reale Kaufkraft der Arbeitnehmereinkommen zu verbessern und den sozialen Frieden zu fördern. Arbeitsminister Ernest Bevin von der Labour Party konzentrierte sich besonders darauf, Arbeitskräfte mit sozialpolitischen Zukunftsverheißungen für freiwillige Anstrengungen und Opfer zu gewinnen. Mit dem Beveridgeplan legte er 1942 ein Programm vor, das als »Magna Charta des Welfare State« und internationaler »Markstein der Sozialstaatsgeschichte« gilt und die Grundlage für die britischen Sozialreformen nach dem Zweiten Weltkrieg bildete.Auch in Deutschland erwies sich der moderne Massenkrieg einmal mehr als »Motor der Sozialpolitik«. Dort hatte Robert Leys Deutsche Arbeitsfront bereits 1940 erste Pläne für Renten- und Gesundheitsreformen vorgelegt, die manche Gemeinsamkeit mit den Konzepten des britischen Kriegsgegners aufwiesen. Vor der Kulisse ausgebrannter Städte propagierte Ley später ein groß angelegtes Wohnungsbauprogramm als Beleg dafür, dass der »Endsieg« schließlich »ein besseres Leben für jeden Deutschen« ermöglichen solle.Frauen zwischen Familie und ArbeitseinsatzSo schonend die britischen Behörden mit der Arbeiterschaft umgingen, so rigoros wurde die allgemeine Dienstpflicht für Frauen durchgesetzt. Unversehends fand sich manche gehobene Dame aus den upper classes ohne Berufserfahrung ebenfalls an den Fließbändern der Rüstungsindustrie wieder. Dorthin trieb die materielle Not auch viele Mütter, deren Ehemänner zum Kriegsdienst eingezogen worden waren. Ihnen wurde lediglich ein reichliches Drittel des bisherigen Familieneinkommens als Unterhalt gewährt. Die Frauenerwerbsquote schnellte auf über 60 Prozent empor. Unter schwierigen Bedingungen haben die britischen Frauen entscheidend dazu beigetragen, die Heimatfront vor dem Kollaps zu bewahren.Ihren Geschlechtsgenossinnen auf der deutschen Gegenseite wurde in dieser Hinsicht nicht annähernd Vergleichbares zugemutet. Die Frauenerwerbsquote lag weit unter den Vergleichszahlen der Jahre 1914 bis 1918. Freilich waren Hitler und seine Ideologen nicht nur überzeugt, dass die Frauenarbeit im Ersten Weltkrieg ihren Teil zum deutschen Zusammenbruch im November 1918 beigetragen hatte. In ihrem Weltbild war der deutschen Frau die Rolle der Mutter und der Hüterin der Familie vorbehalten. Beiden Gesichtspunkten räumten sie von Beginn an Vorrang vor rüstungswirtschaftlichen Erwägungen ein. So erhielten die Familien einberufener Soldaten eine großzügig bemessene Unterhaltshilfe in Höhe von 75 Prozent des bisherigen Familieneinkommens. Hitler verschloss sich hartnäckig dem Drängen der zuständigen Institutionen, Möglichkeiten zur Mobilisierung von Frauen konsequenter zu nutzen. Wiederum ließ er sich dabei zuletzt von persönlichen Erinnerungen an den Ersten Weltkrieg leiten. Nach seiner Überzeugung hatte die Arbeit in den Rüstungsfabriken nicht nur auf die Stimmung der deutschen Frauen gedrückt, sondern auch deren moralische Standfestigkeit oftmals überfordert. Ihren Ehemännern an der Front sei das nicht verborgen geblieben. Dadurch sei sowohl der Durchhaltewillen an der »Heimatfront« als auch die Kampfmoral der Truppe schwer in Mitleidenschaft gezogen worden. Außerhalb der Industriebetriebe haben die Frauen jedoch — vornehmlich in Gewerbe und Landwirtschaft — die deutsche Kriegswirtschaft mit gestützt.Die politische Atmosphäre im ReichNach den Blitzsiegen über Polen und Frankreich berichteten die Informanten des Sicherheitsdienstes der SS im Sommer und Herbst 1940 von einer nie da gewesenen Übereinstimmung der »Volksgemeinschaft« in Deutschland mit dem Kurs ihrer politischen Führung. Allerdings speiste sich die vorübergehende Euphorie vor allem aus der Erwartung eines baldigen Siegfriedens. Der Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 zerstörte diese Illusion endgültig. Kaum jemand ließ sich durch die anfänglichen Siegesmeldungen darüber hinwegtäuschen, dass Deutschland nun in einen lang andauernden Mehrfrontenkrieg mit ungewissem Ausgang verwickelt war. Nach Goebbels' alarmierendem Aufruf zur Sammlung von Wintersachen für das eingefrorene Ostheer und nach der Kriegserklärung an die USA gewannen solche Ahnungen im Winter 1941/42 Gestalt.Die zentral gelenkten Medien in Deutschland verbreiteten einen — durch private Nachrichten oder ausländische Radiosendungen immer häufiger widerlegten — Siegesoptimismus. Hitler wusste, dass sein persönlicher Nimbus und damit die Standfestigkeit seines Regimes auf Gedeih und Verderb vom immer währenden Erfolg abhing. Im Übrigen setzte er nicht zu Unrecht darauf, dass die grosse Masse der »Volksgenossen« schlechte Nachrichten im Grunde gar nicht hören wollte. Der alltägliche Daseinskampf kostete ohne- hin Kraft genug. Zusammengehalten wurde die deutsche »Heimatfront« in den letzten beiden Kriegsjahren vor allem durch einen übermächtigen »Willen zur Normalität« und eine allgegenwärtige Angst. Je chaotischer die Lebensumstände wurden, desto mehr verengte sich das Interesse der Bevölkerung auf die Notwendigkeiten des alltäglichen »Durchkommens vor Ort«. Und je näher die Niederlage rückte, desto sorgsamer achtete jedermann darauf, nicht kurz vor Toresschluss doch noch in die Mühlen der nationalsozialistischen Verfolgungsinstanzen zu geraten. Über allem aber schwebte zudem 1944/45 die tief verwurzelte, von Goebbels immer hemmungsloser geschürte Bolschewismusangst der gesamten Bevölkerung.Organisierter Massenwiderstand gegen die Diktatur konnte sich in Deutschland unter den zuvor genannten Bedingungen nicht formieren. Die Widerstandsgruppen der Arbeiterbewegung waren spätestens 1936 zerschlagen worden. Nach dem Motto »Widerstand im Wartestand« hatten sich die meisten Sozialdemokraten im eigenen Milieu eingeigelt, um dort für die Zeit nach dem Sturz Hitlers bereitzustehen. Die Kommunisten hatten für ihre anfängliche Fehleinschätzung des nationalsozialistischen Regimes einen hohen Blutzoll entrichtet. Danach wurden ihre Expeditionskommandos aus der Emigration regelmäßig von der Gestapo aufgespürt.Die ebenso engagierte wie isolierte Aktion der »Weißen Rose« (1942/43) vermag nicht darüber hinwegzutäuschen, dass es während des Krieges keinen bedeutsamen Widerstand gegen den Nationalsozialismus gegeben hat. Feststellbar ist aber eine verbreitete Widerständigkeit gegen einzelne Verhaltenszumutungen der Diktatur. Sie machte sich auf dem Lande und in katholisch geprägten Regionen besonders hartnäckig bemerkbar. Systembedrohende Ausmaße erreichten solche gesellschaftlichen Teilwiderstände allerdings nirgends. Die große Mehrheit auch dieser Bevölkerungsgruppen hatte sich ansonsten mit den außen- und wirtschaftspolitischen Erfol- gen Hitlers durchaus zufrieden gegeben; den Gewalt- und Unterdrückungsmaßnahmen des Regimes gegen Juden und andere Minderheiten stand sie überwiegend teilnahmslos gegenüber. Wenn überhaupt, hätte Hitler in der zweiten Kriegshälfte von innen her nur noch durch jene alten Eliten gestürzt werden können, die ihm von Beginn an zu Diensten gewesen waren. Dort wuchs zwar die innere Distanz zur nationalsozialistischen Staatsführung, praktische Konsequenzen für die eigene Person vermochte daraus aber kaum jemand zu ziehen. Die Militäropposition blieb deshalb viel zu schwach und unentschieden, um das Ruder in vorletzter Stunde noch herumreißen zu können. Der gescheiterte Aufstandsversuch vom 20. Juli 1944 belegt dies. Darüber hinaus zeigten die verständnislosen Reaktionen aus der Bevölkerung auch, dass ein gewaltsamer Staatsstreich dort nach wie vor keine Basis hatte. Bis zum militärischen Zusammenbruch konnte sich das nationalsozialistische Regime seiner »Heimatfront« sicher sein.Dr. habil. Michael Ruck, MannheimWeiterführende Erläuterungen finden Sie auch unter:Holocaust: Die rassistische Vernichtungspolitik DeutschlandsGrundlegende Informationen finden Sie unter:Weltkrieg, Zweiter: Kollaboration und Widerstand unter deutscher HerrschaftThe civilian in war. The home front in Europe, Japan and the USA in World War II, herausgegeben von Jeremy Noakes. Exeter 1992.Eitner, Hans-Jürgen: Hitlers Deutsche. Das Ende eines Tabus. Gernsbach 21991.Groehler, Olaf: Bombenkrieg gegen Deutschland. Berlin-Ost 1990.Herbert, Ulrich: Fremdarbeiter. Politik und Praxis des »Ausländer-Einsatzes« in der Kriegswirtschaft des Dritten Reiches. Berlin u. a. 21986.Holmsten, Georg: Kriegsalltag. 1939-1945 in Deutschland. Sonderausgabe Bindlach 1989.Klemperer, Victor: Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten, herausgegeben von Walter Nowojski, Band 2: Tagebücher 1942-1945. Berlin 91997.Der nationalsozialistische Krieg, herausgegeben von Norbert Frei und Hermann Kling. Frankfurt am Main u. a. 1990.Nicht nur Hitlers Krieg. Der Zweite Weltkrieg und die Deutschen, herausgegeben von Christoph Kleßmann. Düsseldorf 1989.Paul, Wolfgang: Der Heimatkrieg. 1939-1945. Tatsachenbericht. Taschenbuchausgabe Frankfurt am Main u. a. 1992.Proklamationen der Freiheit. Dokumente von der Magna Charta bis zum Ungarischen Volksaufstand, herausgegeben von Janko Musulin. Frankfurt am Main 76.-87. Tausend 1965.Steinert, Marlis G.: Hitlers Krieg und die Deutschen. Stimmung und Haltung der deutschen Bevölkerung im Zweiten Weltkrieg. Düsseldorf u. a. 1970.Widerstand in Deutschland 1933-1945. Ein historisches Lesebuch, herausgegeben von Peter Steinbach und Johannes Tuchel. München 21997.
Universal-Lexikon. 2012.